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Börsen-Marx und böser Markt – Damals wie heute „alles doof“

15.08.2019 - Finanzjoker- 1 Kommentar

 Der Finanzjoker leiht sich das Dividenden-Tagebuch aus und verfasst einen Gasteintrag.

Während eine große Zahl unserer Leser im Urlaub verweilt, ist unser persönlicher Finanzjoker über ein interessantes Buch gestolpert. Es beinhaltet eine Vielzahl von Briefen Karl Marx' und Friedrich Engels' aus dem 19. Jahrhundert. Darin stößt unser kleiner Narr auf zahlreiche interessante Informationen und Berichte u. a. über damalige Entwicklungen an der Börse und in der Weltwirtschaft, die sich teilweise bis heute auswirken oder fortsetzen lassen. Grund genug, eine kleine Auswahl vorzustellen und aufzuzeigen, wie wenig sich viele Dinge in den letzten 150 Jahren geändert haben. Seine Feststellung: "Damals wie heute anscheinend alles doof!"

Seid mir gegrüßt, ehrenvolle Sonnenanbeter in heimischen und entfernten Gefilden. Viele von euch genießen derzeit wohl den großen Sommer-/Jahresurlaub auf Balkonien mit Begonien, in Spanien mit Geranien oder auch vielleicht in Brasilien mit Lilien und lassen den eigenen Gedanken freien und vielleicht sogar Freilauf (wesentlicher Unterschied). Eurem Joki hingegen ist vor einigen Wochen aus dem Nachlass der knallhart-sozialistischen Großmutter mit großer Vorliebe für Bertolt-Brecht-Zitate ein interessantes Buch in die Hände gefallen: „Karl Marx. Friedrich Engels. Ausgewählte Briefe“, ein 1953 veröffentlichtes Buch des Dietz Verlags in Berlin mit rund 630 Seiten und diesem herrlich-muffigen Geruch, den alte Bücher oft an sich haben. Laut Informationstext im Einband wurden die ausgewählten Briefe „Besorgt vom Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim Zentralkomitee der SED“ und sollen ergänzend zu den großen Publikationswerken der beiden genannten roten Koryphäen eine persönlichen Einblick in deren Briefwechseln geben.

Blätterte ich zunächst noch eher zügig und sporadisch durch, blieb ich durch Zufall (oder einem Wink des Joker-Schicksals?) an einigen Zeilen hängen, die sich mit dem Thema Börsen und (Aktien-)Markt vor 150 Jahren auseinandersetzten. Zudem bemerkte mein Narrenauge, dass Ausdruck und Sprache hier wesentlich erträglicher sind als in den Hauptwerken der selbsternannten roten Rächer und diese an manchen Stellen eine gesunde Portion schwarzen Humor gepaart mit feingeistiger Wortgewandtheit mitbringen. Mein Interesse war nun ganz geweckt und in den nächsten Wochen hieß es „Face-a-book statt Facebook“.

Das Ergebnis: Vieles, was uns heute beschäftigt, verärgert, freut, widerfährt und verängstigt, war auch schon vor 150 Jahren ein Thema („Welch‘ Überraschung, Joki – der Mensch war schon immer ein Mensch?“). Das gilt entsprechend auch für Finanzen, die Geldanlage und das Wirtschaftssystem. Um auch auf den Geschmack zu kommen und zu erkennen, wie ähnlich es teilweise war, habe ich mal einige der interessantesten Passagen aus manchen Briefen für euch hier aufgenommen und jeweils hinterher mit eigenen Kommentaren versehen. Ich denke, manche Jokerjünger werden genauso überrascht und amüsiert sein wie ich…

Engels an Marx (18. September 1846):

„Gestern kam die Sache nochmals und ausführlich zur Diskussion, und da erfuhr ich, daß dieser neue Unsinn wirklich ein ganz unbegrenzter Unsinn ist. Stelle Dir vor: Proletarier sollen kleine Aktien sparen. Davon wird (unter 10.000 – 20.000 Arbeitern fängt man natürlich gar nicht an) zuerst ein oder mehrere Ateliers in einem oder mehreren Handwerken errichtet, ein Teil der Aktionäre dort beschäftigt und die Produkte 1) zum Preis des Rohmaterials plus der Arbeit an die Aktionäre verkauft (welche somit keinen Profit zu zahlen haben) und 2) der etwaige Überschuß zum laufenden Preise im Weltmarkt verkauft. Sowie sich das Kapital der Gesellschaft durch Neuhinzutretende oder durch neue Ersparnisse der alten Aktionärevermehrt, wird es zur Anlage in neue Ateliers und Fabriken verwandt, bis alle Proletarier beschäftigt und alle im Land befindlichen Produktivkräfte aufgekauft und gerecht unter diesen verteilt sind. […] Und die dummen Jungs von Arbeitern hier, die Deutschen mein‘ ich, glauben an den Dreck […].“

Hoho, das stelle man sich vor – Angestellte und Arbeiter sollen (auch) in Aktien investieren mit dem Erspartem. Wo kämen wir denn da hin? Wahrscheinlich 173 Jahre in die Zukunft zu Friedrich Merz, der „Aktien für alle“ forderte, um „Arbeitnehmer mehr am wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen zu beteiligen“. Und wie damals wurde der erneute Vorschlag hierzulande natürlich genauso direkt als höhnischer Unsinn abgeschmettert. Im Gegensatz zum heutigen Otto Normalanleger waren die deutschen Arbeiter damals nach Engels‘ Aussage aber anscheinend für die Idee zu haben. Hat die „Volksaktie Telekom“ vielleicht sogar eine für Jahrhunderte bestehende und mittlerweile vergessene geheime Sehnsucht deutscher Arbeitnehmer zerstört?

Interessante Idee von 1846 übrigens, nicht wie heute als Angestellter zuweilen die Möglichkeit für rabattierte Mitarbeiteraktien zu bekommen, sondern andersrum mit dem durch Aktienausgabe eingenommenen Geld Arbeitsplätze speziell für einen Teil der Aktionäre zu schaffen, die zusätzlich auch vom Unternehmenserfolg profitieren.

Engels an Marx (11. Dezember 1851):

„Liverpooler Markt – ruhig bei den gestrigen Preisen gewesen. Der Manchester Markt – stabil. Deutsche Käufer bleiben nach wie vor dem Markt fern.“

Beim Lesen des dritten und letzten Satzes musste ich tatsächlich nochmal kurz aufs Datum schauen. Nein, das war tatsächlich schon 1851 ein Ding genauso wie heute: Deutsche bleiben dem Aktienmarkt in der Realität dann doch lieber fern. Dabei ist es für die heutigen Teilnehmer so einfach wie nie, da einzusteigen, denn die Möglichkeiten, finanziellen Mitteln und geringen Kosten hatten man damals deutlich seltener und auch nur sehr wenige. Aber naja, Tradition ist ja auch was Feines und ein Wert für sich, ne?

Engels an Friedrich Albert Lange (29. März 1865):

„Sehr amüsiert hat mich Ihre Schilderung der Schulzeschen Genossenschaften*. Alles das ist in seiner Art auch hier dagewesen, jetzt indes doch ziemlich vorbei. Den Leuten in Deutschland muß der Proletarierstolz noch kommen.“

*Fußnote des Dietz Verlags: Gemeint sind die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts geschaffenen Genossenschaften Schulze-Delitzschs. Mit seiner Propaganda der Genossenschaften und der Vorschuß- und Kreditvereine versuchte er die deutschen Arbeiter vom politischen Kampf abzulenken und die Arbeiterbewegung dem bürgerlichen Einfluß zu unterwerfen.

Ein schönes Beispiel, wie gute pragmatische Ideen wie eben die der Genossenschaft aus purer Ideologie scheinbar abgelehnt werden. Aus heutiger Sicht haben sich solche Modelle sehr gut bewährt und gelten als eine wirkungsvolle Möglichkeit für die kleinen Leute von der Straße, der „unsichtbaren Hand des reinen Markts“ etwas entgegenzutreten, bevor sie einem eine ins Gesicht klatscht. Seien es Wohnungsbaugenossenschaften, die eher bezahlbaren Wohnraum schaffen, oder auch Genossenschaftsbanken, die finanziell meist solider dastehen und auch die letzte Finanzkrise deutlich besser überstanden haben. Insofern also gut, dass die „Leute in Deutschland“ im Gegensatz zu den Briten, bei denen es „doch ziemlich vorbei“ war, die Idee beibehalten und ausgebaut haben.

Marx an Engels (30. April 1868):

„Was die Konkurrenz zwischen den in den verschiednen Produktionssphären hausenden und verschieden zusammengesetzten Kapitalmassen anstrebt, ist der kapitalistische Kommunismus, nämlich daß die jeder Produktionssphäre angehörige Kapitalmasse, in der Proportion, worin sie Teil des gesellschaftlichen Gesamtkapitals bildet, einen aliquoten Teil des Gesamtmehrwerts erhascht.“

„Ähm, was?“ Ja, etwas verklausuliert geschrieben. Meint aber letztendlich nichts anderes, als dass diejenigen, die einem Unternehmen (= „Produktionssphäre“) Kapital zur Verfügung gestellt haben oder diesem Unternehmen „angehören“ (z. B. als Aktionäre), einen entsprechenden Anteil am Unternehmensgewinn („Gesamtmehrwert“) bekommen wollen. Unsere gute alte Dividende also. Ich finde hier speziell das Schlagwort „kapitalistischer Kommunismus“ toll - hat vom Klang her einfach was an sich.

Außerdem gibt es mittlerweile Überlegungen von angesehenen und international anerkannten Ökonomen wie Prof. Dr. Dr. Giacomo Corneo, die genau in diese Richtung gehen, um offensichtliche Fehlentwicklungen der bisherigen Formen des Kapitalismus z. B. mit dem Modell eines „Aktienmarktsozialismus“ zu begegnen. Hat unser Märxchen da vielleicht eine tolle Chance für das erstmalige Pflanzen einer mächtigen Idee vergeben? Und warum nutzen Parteien wie die DIE LINKE nicht solche Ideen von einem ihrer Grandeurs, um anstelle reiner Verstaatlichung von Firmen bspw. über mehr Beteiligung von Mitarbeitern und anderen Mitmenschen an Unternehmen nachzudenken? Was wäre das denn anderes als besagter „gesellschaftlicher Besitz der Produktionsmittel“, welcher immer propagiert wird? Verstehen die Linken ihre eigenen Theorien und die heutigen (Zugangs-)Möglichkeiten des Finanzsystems nicht?

Marx an Nikolai Franzewitsch Danielson (19. Februar 1881):

„Wie ich Ihnen vor einiger Zeit schrieb, war die Tatsache, daß die große industrielle und kommerzielle Krise, die England durchgemacht hat, vorüberging, ohne in einem Börsenkrach in London zu kulminieren, eine Ausnahmeerscheinung, die einzig dem französischen Geld zuzuschreiben ist. Dies wird jetzt sogar von englischen Praktikern eingesehen und anerkannt. So schreibt der Statist vom 29. Januar 1881: ‚Der Geldmarkt war nur durch einen Zufall während der vergangenen Jahre so ruhig. Die Bank von Frankreich hat im Frühherbst ihren Vorrat an Barrengold von 30 Millionen auf 22 Millionen Pfund Sterling sinken lassen…Im vergangenen Herbst sind wir zweifellos dem Krach nur mit Müh und Not entgangen.‘(!)

[…]

Das englische Eisenbahnsystem bewegt sich auf derselben abschüssigen Ebene wie das europäische Staatsschuldenwesen. Die herrschenden Magnaten unter den Direktoren der Eisenbahngesellschaften nehmen nicht nur ständig neue Anleihen auf, um ihr Streckennetz zu erweitern, d. h. das Territorium, wo sie als absolute Monarchen regieren, sondern vergrößern auch ihr Netz, um neue Vorwände für die Aufnahme neuer Anleihen zu haben, die es ihnen ermöglichen, die den Besitzern von Obligationen, Vorzugsaktien etc. geschuldeten Zinsen zu zahlen und von Zeit zu Zeit auch den zahlreichen geprellten Inhabern einfacher Aktien einen Bissen in Form von etwas erhöhter Dividende hinzuwerfen. Diese famose Methode muß eines Tages in einer jämmerlichen Katastrophe enden.“

Der erste Absatz aus dem obigen Brief zeigt sehr schön, wie schlichte und unvorhersehbare Zufälle über Wohl und Wehe des Markts, über Eintritt oder Nichteintritt eines Crashs entscheiden können. Zudem zeigt es, dass auch im Jahr 1881, als das Finanzsystem sicherlich noch nicht so kompliziert aufgebaut und verstrickt war wie heute, sogenannte „Experten“ hinterher immer schlauer, aber im Vorfeld genauso ahnungslos schlau wie alle anderen waren. Wenn schon Isaac Newton 1720 nicht berechnen konnte „wohin die verrückte Menge von Menschen einen Börsenkurs hintreiben kann“ – warum sollten es die feinen englischen „Praktiker“ 160 Jahre später können? An solchen Zufällen und dem (Nicht-)Wissen von Finanzfachleuten hat sich bis heute wenig verändert. Wir haben zwar mehr und schneller verfügbare Informationen aus aller Welt – aber das globale Finanzsystem ist im gleichen Zuge ebenso komplizierter, diverser geworden und damit unberechenbarer geworden, dass beide Effekte sich letztendlich gegenseitig aufheben. Es bleibt also alles beim Alten: Tee trinken und warten auf den unberechenbaren Zufall. God Save the Queen (and our money)…

Der anschließende Absatz zu den Eisenbahngesellschaften zeigt wiederum, dass es auch schon damals genauso wie heute Firmen gab, die sich z. B. durch Ausgabe von neuen Unternehmensanleihen noch mehr verschuldeten, um u. a. weiterhin Dividenden bezahlen zu können und sich selbst damit massiv schaden, da betriebswirtschaftliche Logiken damit auf den Kopf gestellt werden. Dass das auf Dauer so nicht gutgehen kann, hat Marx mit seinem letzten Satz (richtigerweise) festgestellt. Auch wir wissen, dass die aktuelle Unternehmensverschuldung auf der Welt durch die niedrigen Zinsen in den letzten 10 Jahren gefährlich ist.

Aber: Im Fall von Marx platzte die Eisenbahnblase erst 1893, also satte 12 Jahre nach seiner Feststellung des Missstandes. Was lernen wir daraus? Damals wie heute ist das schlichte (breitere) Wissen um solche Situationen nicht zwingend ausreichend, dass negative Folgen auch zeitnah eintreten. Die Möglichkeiten „des Systems“ (in Form von Regierungen, Zentralbanken, supranationalen Organisationen, Finanzmarktakteuren, Unternehmen usw.) können erstaunlich lange Widerstand leisten, bis dann irgendein dummer Zufall doch den entscheidenden Schubser bringt. Es gilt damit nach wie vor das eherne Gesetz von John Maynard Keynes„Der Markt kann länger irrational bleiben als Sie liquide“. Also nicht dagegen wetten oder wie das Kaninchen in Schockstarre darauf warten, sondern sich bestmöglich und breit absichern, mit dem Leben weitermachen und die nächste Ausgabe deines hassgeliebten Finanzjokers lesen. Merci beaucoup!

Engels an August Bebel (28. Oktober 1885):

„An disponiblem, anlagesuchendem Kapital ist so stark überproduziert, daß der Diskont hier tatsächlich von 1 bis 1,5 Prozent jährlich schwankt und Geld auf kurze Vorschüsse bei beiderseits täglicher Abzahlung oder Rückforderung (money on call) kaum zu 0,5 Prozent jährlich anzubringen ist.“

Weißt du noch, wie schön es früher war, als es noch richtig hohen Zinsen von vier, fünf oder mehr Prozent für Tagesgeld und andere Sichteinlagen gab (also ohne oder sehr kurze Laufzeit)? Von wegen! Schon unser personifizierter roter Himmelsbote hier lebte in einer Zeit, wo dermaßen viel anzulegendes Geld im Umlauf war, dass die Zinsen auf täglich verfügbare oder rückzahlbare Gelder im Null-Komma-noch-was-Bereich lagen. Früher war es wirklich besser – wenn man sehr leicht an Kinderlähmung sterben wollte.

Engels an Paul Ernst (05. Juni 1890):

„Norwegen ist durch Isolierung und Naturbedingungen zurückgeblieben, aber sein Zustand ist vollständig seinen Produktionsbedingungen angemessen und daher normal. Erst ganz neuerdings kommt ein ganz klein wenig große Industrie sporadisch ins Land, aber für den stärksten Hebel der Kapitalkonzentration, die Börse, ist kein Raum, und dann wirkt konservierend gerade die gewaltige Ausdehnung des Seehandels.“

Bringt uns keine unmittelbaren Erkenntnisse für heute, fand ich aber einfach eine interessante Beschreibung vom Norwegen zum Ende des 19. Jahrhunderts. Immerhin liegen die Anfänge des Norwegens, wie wir es heute kennen mit seinem immensen Wohlstand und dem größten Staatsfonds der Welt (welcher zu 60-70 % in Aktien von über 9.000 Unternehmen weltweit außer Norwegen investiert ist), gerade einmal 50 Jahre zurück. Bis dahin war es eines der ärmeren Länder Europas mit starken Fokus auf Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und Seehandel und entsprechend von der modernen (Börsen-)Welt freundlich ignoriert.

Vielleicht könnte eine Erkenntnis für unsere heutigen (Anleger-)Zwecke sein: Länder entwickelten sich fast immer, mal früher und mal später, in irgendeiner Form weiter, weswegen die Welt insgesamt immer weiter prosperiert. Da man aber nicht wissen kann, welches Land wodurch die nächste unerwartete „Initialzündung“ bekommt, sollte man versuchen, die Welt als Ganzes im Depot zu haben, um auf jeden Fall dabei zu sein (z. B. über breite Indexfonds oder speziell ETFs).

Engels an Conrad Schmidt (27. Oktober 1890):

„Sowie sich der Geldhandel vom Warenhandel trennt, hat er eine eigne Entwicklung, besondere durch seine eigne Natur bestimmte Gesetze und aparte Phasen. Kommt nun noch dazu, daß der Geldhandel sich in dieser weitern Entwicklung zum Effektenhandel erweitert, daß diese Effekten nicht nur Staatspapiere sind, sondern Industrie- und Verkehrsaktien dazukommen, der Geldhandel also eine direkte Herrschaft über einen Teil der ihn, im ganzen und großen, beherrschenden Produktion sich erobert, so wird die Reaktion des Geldhandels auf die Produktion noch stärker und verwickelter. Die Geldhändler sind Eigentümer der Eisenbahnen, Bergwerke, Eisenwerke etc. Diese Produktionsmittel bekommen bald ein doppeltes Angesicht: Ihr Betrieb hat sich zu richten, bald nach den Interessen der unmittelbaren Produktion, bald aber auch nach den Bedürfnissen der Aktionäre, soweit sie Geldhändler sind. Selbst hier in England haben wir jahrzehntelange Kämpfe der verschiednen Bahngesellschaften um die Grenzgebiete zwischen je zweien gesehn – Kämpfe, wo enormes Geld verpulvert wurde, nicht im Interesse der Produktion und des Verkehrs, sondern einzig geschuldet einer Rivalität, die meist nur den Zweck hatte, Börsenoperationen der die Aktien besitzenden Geldhändler zu ermöglichen.“

Hier wird eine Entwicklung beschrieben, die wir tatsächlich bis heute beobachten: Die Finanzwirtschaft entkoppelt sich immer weiter von der Realwirtschaft, obwohl sie sich (in gewissen Grenzen) nach wie vor auf diese bezieht Das bestätigt ein kurzer Blick auf den weltweiten Wert der Realwirtschaft (rund 75 Billionen Euro) im Vergleich mit dem Wert der tatsächlichen und geplanten Geldgeschäfte in der Finanzwirtschaft (rund 700 Billionen Euro).

Das kann dann tatsächlich dazu führen, dass Situationen wie von Engels oben beschrieben auftreten: Das Unternehmen muss sich nicht nur nach den rein realwirtschaftlichen Gegebenheiten sowie nach den Interessen von Aktionären richten, die einfach nur ein gut laufendes und sinnvoll wachsendes Unternehmen langfristig im Depot haben wollen. Stattdessen treten ggf. auch neue Miteigentümer auf die Bühne, welche eher kurz- bis mittelfristige Ziele haben und die sich nicht zwingend mit den Ur-Interessen der Geschäftsführung und den anderen Anteilseignern decken müssen. Dem kann man aber entgegentreten, indem z. B. die Unternehmensleitung Haltung zeigt und sich nicht dem Druck einzelner, zuweilen agitatorischen Aktionäre beugt. Es gehören immer zwei zum Tanzen…

Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson (30. Oktober 1891):

„Die ‚Züchtung von Millionären‘, wie Bismarck sagt, scheint in Ihrem Lande mit Riesenschritten vorwärtszugehen. Solche Profite, wie sie Ihre offiziellen Statistiken aufweisen, sind heutzutage in englischen, französischen oder deutschen Textilfabriken unbekannt. 10, 15, höchstens 20 Prozent Durchschnittsprofit und 25 bis 30 Prozent in Ausnahmejahren ganz besonderer Prosperität werden als gut angesehen. Nur in der Kindheit der modernen Industrie konnten Unternehmungen mit der neuesten und besten Maschinerie, die ihre Waren mit bedeutend weniger Arbeit als der zur Zeit gesellschaftlich notwendigen produzierten, sich solche Profitraten sichern. Augenscheinlich werden solche Profite nur bei glücklichen spekulativen Unternehmungen mit neuen Erfindungen gemacht, also bei einer unter hundert Unternehmungen; die übrigen stellen sich meist als schwere Fehlschläge heraus.“

Man siehe: „Start-ups“ und „Wagniskapital“ gab auch damals, nur mit weniger schicken Bezeichnungen. Ebenso geblieben ist das Vorgehen, in möglichst viele verschiedene vielversprechende Gründungen zu investieren mit dem vollen Bewusstsein, dass 90 plus X Prozent der Investitionen in den Wind geschrieben werden können. Aber die winzige Handvoll an idealerweise erfolgreichen Unternehmen sollen im Gegenzug so hohe Profite ermöglichen, dass die Verluste mehr als aufgewogen werden. So werden auch heute noch manche Millionäre „gezüchtet“ (Engels spricht hier übrigens vom Russischen Kaiserreich).

Engels an Friedrich Albert Sorge (10. November 1894):

"Der Krieg in China hat dem alten China den Todesstoß gegeben. Die Abschließung ist unmöglich geworden, die Einführung von Eisenbahnen, Dampfmaschinen, Elektrizität, großer Industrie ist schon aus Gründen der militärischen Verteidigung eine Notwendigkeit geworden. […] Die chinesische Konkurrenz wird aber bei Euch und bei uns die Sache rasch auf die Spitze treiben, sowie sie massenhaft sind, und so wird die Eroberung Chinas durch den Kapitalismus zugleich den Anstoß geben zum Sturz des Kapitalismus in Europa und Amerika…"

Diese Voraussage von unserem Friedrich hat mich am meisten beeindruckt. Denn letztendlich ist es exakt so gekommen, wenn auch vermutlich anders, als Engels sich ausmalte. Denn China hat sich durch (aus Wettbewerbsgründen zwangsweise) Übernahme von kapitalistischen Elemente bekanntermaßen seinen ganz eigenen speziellen Staatskapitalimsus geschaffen. Damit fordert es bisher recht erfolgreich die freiheitlich-demokratische Marktwirtschaft der westlichen Welt heraus und bringt vor allem die USA und Europa gehörig ins Schwitzen (zzgl. zur aktuellen Sommerhitze) und zumindest wirtschaftspolitisch in gewisse Erklärungsnot. Auch die hohe wirtschaftliche Bedeutung von Chinas hoher Einwohnerzahl, die zu seiner Zeit bereits rund 450 Millionen betrug und damit einen Drittel der damaligen Weltbevölkerung bildete, erkannte Engels damals korrekterweise. China ist heute einer der größten und damit attraktivsten Märkte für Unternehmen weltweit und besitzt damit einen großen Stellhebel, den es geschickt und konsequent zu nutzen versteht. Fast könnte man denken, China ist der letzte kleine Racheakt des „roten Engels“ (im doppelten Sinne) für die zu seinen Lebzeiten misslungene Umwerfung des westlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems…

Dein ebenfalls roter Joki (allerdings aufgrund von Sonnenbrand)

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am 20.01.2021 - 17:01 Uhr Link

nicht unparteiisch aber grandiös und sachlich zusammengetragen und auf dem Punkt gebracht. Bravo.
Danke

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